Das Tagungsthema

Das Ende der Aushandlungen?

Dass Wirklichkeitskonstruktionen und Bedeutungszuschreibungen sozial verhandelt werden, ob während religiöser Zeremonien, in Flüchtlingslagern oder in naturwissenschaftlichen Labors, ist in den vergangenen Jahrzehnten zu einem konzeptionellen Grundbestand ethnologischen Arbeitens geworden. Jedoch lässt sich feststellen, dass nur äußerst selten ausbuchstabiert wird, was mit dem Begriff der sozialen Aushandlung gemeint ist. Der theoriegeschichtliche Hintergrund dieses Begriffs bleibt meist ebenso implizit wie die Antwort auf die Frage, um welche spezifische Form der soziokulturellen Praxis es sich dabei handelt. Auch wenn Einigkeit darin zu bestehen scheint, dass der Begriff der sozialen Aushandlung auf die Existenz heterogener Perspektiven auf die Welt verweist und zugleich die Annahme zum Ausdruck bringt, dass Realität von den Menschen nicht einfach vorgefunden, sondern von ihnen interaktiv gemacht wird, birgt diese fehlende Konkretisierung die Gefahr in sich, soziale Aushandlung zu einem Platzhalter für vage Ideen über die gesellschaftliche Koproduktion von Wirklichkeit verkommen zu lassen.

Während sich die 1990er Jahre noch durch eine gewisse Globalisierungseuphorie auszeichneten, in der die Möglichkeit einer globalen Entgrenzung sozialer Aushandlungsprozesse in greifbare Nähe gerückt zu sein schien, sind die sich durch die Globalisierung einstellenden sozialen Verwerfungen heutzutage nicht mehr zu übersehen. Die Vorstellung, dass ein globaler Austausch zum Entstehen einer weltweiten Ökumene führen könnte, macht zunehmend dem Bewusstsein Platz, dass existierende oder erst entstehende Formen der Ungleichheit, der Exklusion, Abschottung und Verhärtung neue Begrenzungen befördern. Diese betreffen auch die Frage, mit wem, unter welchen Bedingungen, in welcher Weise und mit welchen Zielsetzungen soziale Aushandlungen betrieben werden – wenn überhaupt. Prozesse der Polarisierung und ideologischen Schließung erlangen dabei auch in den innerstaatlichen Beziehungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen eine erhöhte Virulenz. Unter identitätspolitischem Rückbezug auf unterschiedliche Formen der sozialen oder kulturellen Distinktion entstehen dadurch disjunkte und introvertierte Räume der sozialen Aushandlung, die sich – beispielsweise in den fragmentierten Öffentlichkeiten der Sozialen Medien – gegenseitig kaum zur Kenntnis nehmen oder auch jegliche Dialogmöglichkeit davon abhängig machen, dass den eigenen Maßgaben gefolgt wird.

Die Tagung setzt sich zum Ziel, die Potentiale und Limitationen des Begriffs der sozialen Aushandlung anhand einer empirienahen Beschäftigung mit der thematischen und regionalen Bandbreite ethnologischer Gegenstandsbereiche herauszuarbeiten. Dabei greift sie die semantische Doppeldeutigkeit des Tagungstitels auf, um sich zum einen der Frage zu widmen, was von sozialen Akteur_innen in bestimmten Situationen und Kontexten als ‘nicht verhandelbar’ gesetzt wird, sei es aus strategischen Erwägungen, weltanschaulichen Überzeugungen oder aufgrund (über)lebenswichtiger Grundsicherungen. Zum anderen geht es darum, jene Praktiken zu untersuchen, mittels derer die potentiell unbegrenzten Dynamiken sozialer Aushandlungen durch Akte der Schließung zu einem Ende gebracht werden – auch wenn diese Schließung gegebenenfalls nur provisorischen Charakter hat und zu einem späteren Zeitpunkt revidierend zur Disposition gestellt wird. Hierin inbegriffen sind beispielsweise die provisorische Übereinkunft als Möglichkeitsplattform für zukünftige Interaktionen, machtvolle Akte der Institutionalisierung und Vergesetzlichung, aber auch der radikale Entzug von Verhandlungsbereitschaft. Ein solch doppeldeutiger inhaltlicher Fokus auf das ‘Ende der Aushandlungen’ erlaubt nicht nur neue empirische Einsichten, sondern auch eine  eingehende epistemologische, methodologische und theoretische Reflektion des ethnologischen Arbeitens.

Vor diesem Hintergrund sind die Tagungsteilnehmer_innen eingeladen, sich in ihren Beiträgen mit den Formen der Schließung sozialer Aushandlungsprozesse und/oder mit jenen Aspekten zu beschäftigen, die von bestimmten Akteur_innen als ‘nicht verhandelbar’ gesetzt werden. Aspekte des Nicht-Verhandelbaren können beispielsweise formuliert werden mit Bezug auf religiöse Orthodoxien (z.B. christliche, hinduistische oder islamische Fundamentalismen); politische Ideologien und Idealtypen der Bürokratie (z.B. Nationalismus; Trennung von Amt und Person); identitätspolitische Setzungen (z.B. Autochtonie; kulturelles Erbe; Rasse); Mindestanforderungen im Bereich der wirtschaftlichen Subsistenz, der Mensch-Umwelt-Beziehung (z.B. Klimawandel) oder der menschlichen Sicherheit (z.B. das weit gefasste Konzept der human security); ethische Bewertungen und moralische Legitimationen (z.B. in medizinischen Praktiken und in der Freiwilligenarbeit); dogmatisch formulierte Menschenbilder (z.B. in Menschenrechtsdiskursen und im Humanitarismus); wirtschaftspolitische Leitlinien (z.B. einer neoliberalen Ausrichtung); als standardisiert gesetzte Formen der Kommunikation (z.B. bei der alternative conflict resolution); und das Postulat einer ‘radikalen Alterität’ (wie sie in dem ontological turn zugeordneten und feministischen Studien formuliert bzw. kritisiert wurden).

Bei der ethnographischen Beschäftigung mit solchen Aspekten ist interessant, aufgrund welcher Bedingungen und zugeschriebenen Eigenschaften sie für bestimmte soziale Akteur_innen als ‘nicht verhandelbar’ gelten, sprich, wie ihre Nicht-Verhandelbarkeit hergeleitet und begründet wird. Auch ist zu fragen, wie Verhandelbarkeit und Nicht-Verhandelbarkeit im Verlauf konkreter Praktiken gegeneinander abgewogen werden und wie mit konfliktreichen Konfrontationen zwischen divergierenden Setzungen des Nicht-Verhandelbaren umgegangen wird. Ebenso sind in diesem Zusammenhang gegenläufige Prozesse von Interesse, nämlich wenn die von einigen Akteur_innen behauptete Nicht-Verhandelbarkeit eines Aspektes von anderen hinterfragt oder praktisch unterlaufen und dadurch zur Disposition gestellt wird. Schließlich ist mit dem Tagungsthema eine selbstreflexive Komponente ethnologischen Arbeitens angesprochen, denn begreift man Feldforschung als einen Aushandlungsprozess zwischen Ethnograph_in und Ethnographierten, so ist hier immer wieder zu beobachten, dass bestimmte Prämissen der Interaktion, etwa solche forschungsethischer oder identitätspolitischer Natur, als ‘nicht verhandelbar’ gesetzt werden. Zusätzlich zu der Untersuchung in den spezifischen ethnographischen Feldern sind folglich auch Tagungsbeiträge höchst willkommen, die sich mit den epistemologischen, methodologischen sowie forschungsethischen und -praktischen Herausforderungen dieses Themas beschäftigen.